Der EuGH erteilt dem Verständnis des BAG zum Schutz des mitbestimmungsrechtlichen Status Quo bei Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung seinen europarechtlichen Segen - § 21 VI 1 SEBG sichert danach den Fortbestand der prägenden Elemente der Einflussnahme auf die Beschlussfassung der Gesellschaft. Das soll auch den gesonderten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter nach dem MitbestG umfassen.
Zum Hintergrund:
Unternehmen, die in der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigen und auch ansonsten in den Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) fallen, müssen einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat bilden. Dieser besteht also jeweils zur Hälfte aus Arbeitnehmer- und Anteilseignervertetern. Die Seite der Arbeitnehmervertreter ist nochmals unterteilt in 2 oder 3 Gewerkschaftsvertreter, in aller Regel genau einer Person aus dem Kreis der leitenden Angestellten sowie je nach Größe des Gremium 3, 5 oder 6 unternehmensangehörigen Arbeitnehmern im Sinne von § 5 Abs. 1 BetrVG. Für jede dieser drei Personengruppen wird bei der Aufsichtsratswahl ein eigenständiger Wahlgang durchgeführt. Dies führt wiederum dazu, dass für die im Unternehmen vertretenen Gewerkschaft(en) zwei oder drei Sitze im Aufsichtsrat "reserviert" sind.
Eine solche Sitzgarantie der Gewerkschaften mutet in der heutigen Zeit teilweise etwas befremdlich an. Sie kann dazu führen, dass in einem Unternehmen, obwohl dort nur sehr wenige Gewerkschaftsmitglieder beschäftigt sind (im Extremfall würde ein einziges Gewerkschaftsmitglied unter den mehr als 2000 Beschäftigten ausreichen), diese im Aufsichtsrat zwingend zwei oder drei Sitze besetzen würden und damit im Vergleich zu den Arbeitnehmern im Sinne von § 5 Abs. 1 BetrVG mit ihren 3, 5 oder 6 Sitzen erheblich überrepräsentiert wären.
Die Begründung, die hinter der Sitzgarantie der Gewerkschaft steht – und vom Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrtausends stammt - lautet, dass durch die Wahl von Gewerkschaftsvertretern besondere Sachkenntnis über das Unternehmen und dessen Bedürfnisse - wohl branchenspezifischer Art - eingebracht werden sollen. In der heutigen Zeit wird die zwingende Repräsentation der Gewerkschaftsvertreter zunehmend hinterfragt. Eine Gesetzesänderung ist aber nicht zu erwarten.
Praxisrelevant wird die Beteiligung der Gewerkschaften bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats aktuell in besonderem Maße dann, wenn es um die Ausgestaltung einer Beteiligungsvereinbarung im Rahmen der Gründung einer europäischen Aktiengesellschaft (SE) geht, in der das Mitbestimmungsmodell in der neu zu gründenden SE geregelt wird. Da auch häufig auf Seiten der Arbeitnehmer keine Notwendigkeit für eine zwingende Repräsentation der Gewerkschaften gesehen wird, könnte man hier einen Weg für Verhandlungslösungen vermuten. Allerdings beschränkt § 21 VI 1 SEBG die Verhandlungsautonomie der Parteien: Danach muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.
Dies ist nach Auffassung des BAG in seinem Beschluss vom 18.08.2020 (1 ABR 43/18) so zu verstehen, dass "die Parteien der Beteiligungsvereinbarung bei der Gründung einer SE durch Umwandlung in dieser sicherstellen müssen, dass die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd § 2 VIII SEBG in gleichwertigem Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten bleiben."
Folglich wäre ein Verzicht auf den besonderen Wahlgang für die Gewerkschaftsvertreter und die damit verbundene zwingende Repräsentation im Aufsichtsrat in einer Beteiligungsvereinbarung nicht möglich, wenn es sich dabei um ein - in den Worten des BAG - prägendes Element der Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft im Rahmen eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer handelt.
Hiervon geht das BAG aus und begründet dies folgendermaßen: "Das im Mitbestimmungsgesetz vorgesehene – durch ein gesondertes Wahlverfahren abgesicherte – Recht der Gewerkschaften, für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen, beruht auf der Erkenntnis des deutschen Gesetzgebers, dass die Beteiligung von durch Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertretern ein gerade wegen deren Unabhängigkeit wichtiges Element der Meinungsbildung im Aufsichtsrat darstellt (vgl. BT-Drs. 7/4845, 5). Das Gesetz geht seit seinem Inkrafttreten am 1.7.1976 unverändert davon aus, dass zu einer gleichberechtigten und vor allem auch gleichgewichtigen Beteiligung der Anteilseigner und der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der Unternehmen auf der Arbeitnehmerseite zwingend die Teilnahme von Vertretern der überbetrieblich organisierten Arbeitnehmerschaft, also der im Unternehmen oder Konzern repräsentierten Gewerkschaften gehört (vgl. BT-Drs. 7/2172, 17). Eine ausschließliche Beschränkung der möglichen Arbeitnehmervertreter auf Personen, die Mitglieder des Unternehmensverbands sind, liegt danach nicht im Interesse der Arbeitnehmer selbst."
Zunächst erschließt es sich nicht, die Unabhängigkeit der Gewerkschaftsvertreter hervorzuheben. Diese mögen zwar nicht vom Unternehmen abhängig sein, allerdings sind sie von Gewerkschaft abhängig und sind damit auch nicht frei von Interessenkonflikten. Zudem handelt es sich lediglich um eine These ohne Untermauerung durch Tasachen. Nehmen die Gewerkschaftsvertreter tatsächlich auf Grund ihrer Unabhängigkeit Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess im Aufsichtsrat? Mein Eindruck aus der Praxis ist eher nein! Auch hier mag es in den noch traditionell stark gewerkschaftlich geprägten Unternehmen Fälle geben, wo die Gewerkschaftsvertreter - insbesondere, wenn es sich um Führungspersönlichkeiten wie Gewerkschaftsvorsitzende handelt - alleine auf Grund dieses Standings Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess ausüben können. Dies ist aber einer großen Mehrheit der Unternehmen nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall, was sich insbesondere anhand des deutlich gesunkenen Organisationsgrad der Gewerkschaften nachvollziehen lässt. Das BAG scheint bei seiner These immer noch an Erkenntnissen aus den späten 60er Jahren zu haften, wenn es auf die Kommission Mitbestimmung unter Kurt Biedenkopf verweist, die 1968(!) konstituiert wurde und ihren Bericht 1970(!) vergelegt hat.
Das BAG führt dann weiter aus: "Nach den gesetzlichen Wertungen haben die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat – deren Repräsentanz durch die Wahl der Arbeitnehmer legitimiert ist – eine die Mitbestimmung der Arbeitnehmer stärkende Funktion. Damit soll sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat Personen angehören, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügen, und gleichzeitig externer Sachverstand vorhanden ist"
Im Ergebnis ist der Sinn also eine - unterstellte - die Mitbestimmung stärkende Funktion, die weder mit aktuellen empirischen Befunden, noch mit praktischen Erfahrungen in einem überwiegenden Teil der Unternehmen in Einklang zu bringen ist. Die gesetzlichen Wertungen, auf die das BAG hier wiederum abstellt, stammen aus der Gesetzesbegründung zum MitbestG 1976. In der damaligen Zeit mag dies nachvollziehbar gewesen sein.
Noch abstruser wird die Argumentation des BAG, dass die Gewerkschaftsvertreter Personen sein sollen, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügen sollen. Nicht nur, dass das BAG für diese These jegliche empirische Grundlage schuldig bleibt, erscheint schon die These gewagt, dass externe Gewerkschaftsvertreter mit dem Unternehmen und dessen Bedürfnissen vertrauter seien als dessen interne Arbeitnehmer. Gewerkschaftsvertreter bringen in der Regel zwar branchenspezifische Kenntnisse mit und möglicherweise Erfahrungswerte aus mehreren Aufsichtsratstätigkeiten in Unternehmen derselben Branche. Ob dies der Fall ist und die Gewerkschafter tatsächlich über den bereits vorhandenen Sachverstand noch nennenswerten weitergehenden Sachverstand mitbringen, hängt letztlich entscheidend von den jeweiligen Personen ab. Im Ergebnis bleibt die Subsumtion des BAG, es handele sich um ein, die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägendes Element, mehr um Bauchgefühl als von den tatsächlichen Gegebenheiten in weiten Teil der Unternehmenslandschaft geleitet.
Zugegeben, eine Beschränkung der wählbaren Arbeitnehmervertreter auf unternehmensangehörige Personen, wäre in der Tat nicht im Sinne einer bestmöglichen Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte im Aufsichtsrat durch die Arbeitnehmervertreter. Insofern wäre es aber genügend, den Gewerkschaften das Recht einzuräumen - analog zur Betriebsratswahl - eigene Wahlvorschläge einzureichen, die auch externe Personen enthalten dürften. Allerdings ohne dass damit ein gesonderter Wahlgang und eine zwingende Repräsentanz der Gewerkschaften verbunden wäre, sondern die Belegschaft demokratisch entscheiden kann, ob aus ihrer Sicht die Beteiligung von externen Gewerkschaftsvertretern sinnvoll ist oder nicht.
Und damit kommen wir zum aus meiner Sicht entscheidenden Punkt: Wenn das BAG zu der Erkenntnis gelangt, dass das die die Einflussnahme prägenden Elemente der Mitbestimmung nicht vollständig, sondern in einem qualitativ gleichwertigem Maß sichergestellt werden müssen, drängt sich die Frage auf, ob nicht die Sicherstellung der Wahlmöglichkeit – ohne Wahlzwang – von Gewerkschaftsvertretern ein qualitativ gleichwertiges Maß sicherstellt. Zumal in den Unternehmen, in denen die Gewerkschaften noch stark verwurzelt sind und damit auch tatsächlich Einfluss ausüben können, über die Möglichkeit, Wahlvorschläge einreichen zu können eine ausreichende Beteiligungsmöglichkeit gesichert ist. Das dies funktioniert zeigt sich bei der ähnlich gelagerten Situation bei den Betriebsratswahlen. Einfach gewendet: Eine im Unternehmen tatsächlich auch einflussreiche und verwurzelte Gewerkschaft wird keine Schwierigkeiten haben, bei der Aufsichtsratswahl zumindest einen Kandidaten durchzubringen. Wenn die Gewerkschaft im Unternehmen keine Basis hat - aus welchen Gründen auch immer - sollte es der Belegschaft überlassen sein, ob sie die Wahl von Gewerkschaftsvertretern und wenn ja, von wie vielen für sinnvoll erachtet. An der Qualität der Einflussnahme der Arbeitnehmer im Rahmen der Mitbestimmung im Aufsichtsrat wird sich dadurch nichts ändern, demgegenüber besteht für die gewählten Vertreter eine wirkliche demokratische Legitimation und die Wahl erfolgt nicht nur, weil man ja Gewerkschaftsvertreter wählen muss.
Letztlich schützt die mit dem gesonderten Wahlgang verbundene Sitzgarantie der Gewerkschaften nicht die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, sondern lediglich die Interessen der Gewerkschaften. Insofern bestehen zurecht schon erhebliche Zweifel, ob dies wirklich dem Sinne und Zweck des Schutzes durch § 21 VI 1 SEBG entspricht.
Ausblick:
Der EuGH hat nunmehr mit Beschluss vom 18.10.2022 dem BAG bestätigt, dass die vorgenommene Auslegung von § 21 VI 1 SEBG europarechtskonform ist. Er musste dabei allerdings die vorgegebenen Annahmen des BAG zu Grunde legen - also dass es sich bei dem gesonderten Wahl der Gewerkschaftsvertreter um ein nach nationalem Recht prägendes Element der Mitbesimmung handelt.
Selbst wenn man die Ausführungen des EuGH zu den europarechtlichen Regelungen teilt, bleibt doch die entscheidende Frage, ob der Begriff des prägenden Elementes nach dem Verständnis eines Gesetzesgebers von vor nahezu 50 Jahren ausgelegt werden kann, der noch gar nicht vorhersehen konnte, wie sich die Mitbestimmung im Aufsichtsrat und die Beteiligung der Gewerkschaftsvertreter auswirken würde. Vielmehr muss zu Grunde gelegt werden, wie sich die Einflussnahme tatsächlich in der Praxis gestaltet. Es wäre schön, wenn dass BAG sich in der voraussichtlich nun noch folgenden Entscheidung, sich noch einmal intensiv mit der Frage, ob es sich wirklich um ein prägendes Element handelt auseinandersetzt. Das es seine EInschätzung korrigiert oder einschränkt dürfte jedoch kaum zu erwarten sein.
Auch stellen sich nun weitere offene Fragen, welche Regelung der Unternehmensmitbestimmung als prägende Elemente der Einflussnahme der Arbeitnehmer anzusehen sind. Gilt dies schon für die Wahlordnung? Oder die Unterscheidung zwischen einer unmittelbaren und einer Delegiertenwahl nach der Anzahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer? Und wie ist das mit der Sitzgarantie für die leitenden Angestellten?
Ich kann das prinzipielle Interesse des BAG und EuGH, die Möglichkeiten, die SE als Instrument zur Verhinderung einer drohenden Ausweitung der Mitbestimmung, etwa bei einem bevorstehen eines "Hineinwachsens" in die paritätische Mitbestimmung, zu begrenzen. Das ist auch aus meiner Sicht völlig richtig und der Gesetzgeber ohnehin gefragt hier bestehende Lücken schnellstmöglich zu schließen. Dem gesonderten Wahlgang der Gewerkschaften diesen Schutz angedeihen zu lassen ist aber - auch verfassungsrechtlich - fehl am Platz.